Dienstag, 24. Mai 2011

Das 4-fache «Memento mori»


«Memento moriendum esse». Ob in Öl gemalt, ehrfürchtig zwischen Büchern platziert oder auf Grabsteine gemeisselt: Früher rümpfte niemand die Nase oder wendete sich angewidert ab, wenn man symbolisch an seine eigene Vergänglichkeit gemahnt wurde. Nur heute ist dies anders. Heute findet der Tod in der Abgeschiedenheit eines Friedhofes oder der Anonymität fremder Spitalzimmer statt und ein Schädel ist etwas, was man lieber nicht berühren möchte, geschweige denn bei sich zuhause auf dem Schreibtisch stehen hat. In einer Zeit, in der Jugend und ewige Schönheit alles ist, in der eine Geburt zum beinahe schon medialen Ereignis hochstilisiert wird, findet die andere, natürliche Seite des Lebens – das Ende – keinen Platz mehr.

Als ich mich mit 8 Jahren nieder kniete und neugierig durch das vergitterte Bodenfenster einer mitten im toskanischen Nirgendwo gelegenen Kirche blickte, war es um mich geschehen. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die staubige Dunkelheit des erspähten Schachtes zu gewöhnen. Doch dann sah ich ein von zerknüllten Taschentüchern, Schokoladenpapierchen und Cola-Büchsen kunstvoll umrandetes Gräberfeld menschlicher Schädel. Auf einen Schlag interessierte mich der Grund unseres Besuches – die unglaublich seltene Akkustik des kirchlichen Kuppelbaus – nicht mehr im Geringsten und ich bettelte meinen Vater an, er möge mir doch (nur) ein einziges Exemplar der vielen Totenköpfe aus dem finsteren Loch fischen. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass sich meine Eltern in keinster Weise durch mein verzweifeltes Flehen erweichen liessen und mir stattdessen einen kleinen Souvenir-Schädel aus gepresstem Carrara-Marmorstaub in die Hand drückten. Etwas mit dem man so gar nicht vor seinen Spielkameraden prahlen kann. Nicht zuletzt, weil sich mein Vater einige Jahre später selber einen echten Kopf ins Regal seiner Bibliothek stellte und mir verbot auch nur in seine Nähe zu kommen, schwor ich mir mich für die fehlende Empathie meiner Eltern bitterlich zu rächen. Zehn Jahre später war es dann soweit: Mit meinem ersten Lehrlingslohn kaufte ich meinen ersten Menschenschädel. Über all die Jahre blieb es nicht bei diesem einen. Doch: Das erste Mal vergisst man bekanntlich nie und so ziert das geliebte Objekt meiner Begierde und Rache, sorgfälltig unter einer Glaskuppel gebettet, immer noch unser schmuckes Heim.

Aus meiner «Wunderkammer»:

[A] (mein Erstkauf)
Männlicher Schädel, 20. Jahrhundert, vermutlich aus dem arabischen Raum.
Schöne Patina, Unterkiefer mit Nägeln befestigt, Zähne teilweise mit Füllung.

[B]
Mädchen-Schädel, vermutlich 19. Jahrhundert, aus Familienbesitz, Emmental.
Wunderschöne Patina, leider kein Unterkiefer vorhanden.

[C]
Männlicher Schädel, Alter und Herkunft unbekannt.
Unterkiefer mit Draht befestigt, Gebiss sehr gut erhalten, Zähne teilweise mit Wachs wieder eingesetzt. 

[D]
Weiblicher Schädel, 50er-Jahre 20. Jahrhundert, aus Familienbesitz, Kanton Bern.
Sehr seltene Rarität: Das Original des massgenau angepassten dritten Gebisses ist immer noch vorhanden und kann problemlos auf den Unter- und Oberkiefer des Schädels gesetzt werden. Unterkiefer nicht befestigt.

Nur damit es erwähnt sei: Alle Schädel wurden legal auf Antiquitätenmessen und aus Privatbesitz erworben und nicht heimlich bei Nacht und Nebel ausgegraben. Meine Kaufquellen verrate ich natürlich nicht.
 

Freitag, 20. Mai 2011

Drink more curiosity!


Eigentlich bin ich ja eher reinem Wasser und alkoholhaltigem Traubensaft zugetan. Doch kann die Einnahme von aromatisiertem Zucker in flüssiger Form hin und wieder eine erfreuliche Abwechslung sein. Insbesondere dann, wenn die am Nervenkostüm nagende Anglophilie kurzzeitig mit einem prickelnden englischen Gebräu gezähmt werden kann.

Das Auge trinkt mit. Nicht dass man nun unbedingt die Verpackung dem Inhalt vorziehen sollte  – wo aber der Hersteller in Schönheit investiert, wird meistens auch auf die Qualität des Produktes geachtet. Den beinahe viktorianisch anmutenden Fläschchen von «Fentimans» sieht man die Geschichte ihrer Herkunft an. 1905 gewährte Thomas Fentiman einem befreundeten Geschäftsmann ein Darlehen und erhielt, als Sicherheit, das Rezept für ein pflanzlich gebrautes Ginger Beer. Nachdem der vereinbarte Betrag – trotz dem Ehrenwort des englischen Gentleman – von diesem nie mehr zurück bezahlt wurde, ging das Rezept in den Besitz Fentimans über und begründete seinen zukünftigen wirtschaftlichen Erfolg. Seither braut Fentiman vier verschiedene Limonaden, eines der besten Tonic Water mit dem ich meinen «Bombay Sapphire» vereinen durfte, klassisches englisches Shandy und - eben - Ginger Beer. Die ausschliesslich rein pflanzlichen Rezepte und die Verpackung der Getränke hat sich über all die Jahrzehnte, vom Wechsel von Steingut zur Glasfalsche einmal abgesehen, nicht im geringsten geändert. So darf man diese erfrischenden Köstlichkeiten in einer beinahe schon historisch-kuriosen Geschmacksausprägung geniessen. Vom erschütternd fremdartig schmeckenden Löwenzahn-Trunk, über einen exotisch-altertümlich mit viel Ingwer aromatisierten «Mandarine & Seville Orange Jigger» und der «Victorian Lemonade», die meine Magenschleimhäute auch Stunden nach dem Genuss noch ausführlichst beschäftigt hat, bis zum «Curiosity Cola», das eher an das alte Medizinschränkchen des Grossvaters erinnert als an das Flaggschiff des American way of life: Fentiman gefällt mir mit jedem Schluck besser und besser. Schön ist manchmal Ginger Beer mehr Wert als das Ehrenwort eines englischen Gentleman.

Mehr über «Fentimans» gibt es auf Englisch (das Original)
oder Nord Amerikanisch (die schönere Website)

Montag, 16. Mai 2011

In Britain again {5} – Cambridge

Auch mit einem unstudierten Kopf braucht man die Nähe zu Bildungsstätten nicht zu fürchten. Selbst dann nicht, wenn diese auf kleinstem Raum, in einer schier unnatürlichen Anhäufung vorkommen. In Cambridge riecht es an allen Ecken und in der hintersten Gasse nach Wissen. Ein Umstand, der beim pompösen Konkurrenten Oxford irgendwann etwas lästig werden kann, wird hier spielend mit dem unwiderstehlichen Charme der Stadt wett gemacht. Ich liebe Universitätsstädte mit ihrer ganz eigenen Studentenkultur der kleinen Cafes, Restaurants und Läden – Cambridge ist diesbezüglich keine Ausnahme. Wer freiwillig im Hotel diniert und sich ausschliesslich mit Sightseeing begnügt, ist selber schuld. Während andere englische Städte ähnlicher Grösse und touristischer Wertschätzung nach der Abendessenszeit mit menschenleeren Strassen aufwarten, findet hier das Leben, vor und hinter den Mauern der unzähligen Colleges, bis weit in die Nacht kein Ende. Wem der Rummel dann doch zu viel wird, kann jederzeit seine Flucht in eine der vielen grünen Oasen antreten. Wir sind einen Tag lang quer durch die Stadt, vom wunderbar angelegten botanischen Garten, entlang der verträumten Kanäle und über die blühenden Wiesen des «Sheeps Green» und «Coe Fen» bis hin in die  Parkanlagen der «Backs» spaziert und hatten dabei nur selten Asphalt oder Strassenpflaster unter unseren Sohlen. Sollte dies noch nicht reichen, darf man – selbstverständlich gegen Eintritt – auch gerne einen der «Secret Gardens» der Colleges betreten und in den altehrwürdigen Hallen etwas Harry Potter spielen. Mit Cambridge haben wir eine neue Liebe gefunden und werden ihr mit Sicherheit gerne auch in Zukunft treu den Hof machen.

Am Ende unserer Reise stand – wie nicht anders zu erwarten war – London. Nach dem unbeschwert leichten Leben auf dem Lande, ist mir dieser lärmende Moloch nur einen Satz wert: Wer mit dem Eurostar die Insel zu verlassen gedenkt, plant seine letzte Nacht in Cambridge und würdigt Englands Metropole lediglich mit dem Überschreiten des Fussgängerstreifens zwischen «Kings Cross» und «St. Pancras». See you again Britain – as soon as possible.

Essen in Cambridge: «Côte Bistro»
Schlafen in Cambridge: «The Varsity Hotel & Spa»


Nicht schlafen in London: «The Mandeville Hotel»
Hotel und London schön trinken: «108 Marylebone Lane»

Sonntag, 15. Mai 2011

In Britain again {4} – Shrewsbury

Wer zur Hölle verbringt seine Ferien in Shrewsbury? Während wenige von uns Shropshire mit dem poetischen Werk A. E. Housmans «A Shropshire Lad» in Verbindung bringen können, war ich schon mit der Frage überfordert, wo die Grafschaft mit der betreffenden Stadt überhaupt liegt. Eigentlich suchten wir schlicht einen geeigneten Ausgangspunkt für unseren Besuch in «Blists Hill», einem Museumsdorf das sich ausschliesslich mit dem Leben und der Arbeit während der viktorianischen Zeit befasst. Nur dank der mehrteiligen BBC-Dokumentation «Victorian Pharmacy» sind wir auf diesen Ort in the middle of nowhere gestossen und haben uns entschieden, die etwas mühsame Reise per Bahn aus dem südwestlichen Devon in die Midlands anzutreten. «Blists Hill» wie Shrewsbury haben sich als absoluter Glücksfall erwiesen. Shrewsbury, malerisch mit seinem Schloss und den alten Häuserzeilen in eine Schlaufe des River Severn gebettet, hat alles zu bieten, was ein romantisch veranlagtes anglophiles Herz begehrt: Neben historischer Architektur, einem grosszügigen Park und baumbeschatteten Spazierwegen entlang des Flusses, steht hier auch das letzte, bis 2012 noch im Dienst befindliche Lunatic Asylum aus viktorianischer Zeit; das «Shelton Hospital». Wenn auch meine Sehnsucht-Destination «Cane Hill» durch rücksichtslose Planer und Vandalen dem Erdboden gleich gemacht wurde, so war immerhin das «Shelton Hospital» die einzigartige Chance den beeindruckenden Grundriss einer Institution jener Zeit in Natura und gänzlich erhalten bewundern zu können.

 
Essen und schlafen in Shrewsbury: «Lion & Pheasant» 

Eine Zeitreise träumerisch, gedanklich oder als «Living History» auch physikalisch zu erleben, ist ein Glücksmoment. «Blists Hill Victorian Village» ist all jenen zu empfehlen, die für einen Augenblick dem Alltag entfliehen und mit allen Sinnen ein wohltuendes Bad in den Wirrnissen der Vergangenheit nehmen möchten. Das unweit von Telford gelegene Museumsdorf präsentiert einen wundervoll um die Reste historischer Fabrikanlagen gebauter, sorgfältig rekonstruierter Komplex mehrerer Gebäude und Strassen, die Kulisse für eine eindrückliche Präsentation viktorianischer Lebensumstände sind. Nachdem man im Bankhaus ein paar britische Pfund in Token und Shillings gewechselt hat, steht einem Einkaufsbummel zum Apotheker, Schlachter, Tuchwarenhändler, Drucker, Bäcker, Stuckateur und Fotografen oder einem Abstecher in die dampfgeschwängerten Hallen der Giesserei und der ortsansässigen Kohlengrube nichts mehr im Wege. Wir sind mit leuchtenden Augen, schnuppernd, schmeckend, hörend und fühlend durch eine noch nicht weit zurück liegende, versunkene Welt spaziert und waren rundum begeistert. «Blists Hill» sei gedankt – wir brauchen keine Zeitmaschine mehr.

Mehr zur BBC-Dokumentation «Victorian Pharmacy»

In Britain again {3} – Dartmoor

Ach, wo fange ich nur an? In diesem Moor wurde ich wiedergeboren. Das liest sich etwas gar pathetisch – ist aber so. Der Schweizer kennt nur die Enge der Alpen und des zersiedelten Mittellandes. Von menschenleerer Weite besitzen wir erst dann eine Vorstellung, wenn wir über den Tellerrand unserer kleinen Heimat blicken. Ich wusste nicht, dass man vor Begeisterung schockiert sein kann. Doch als ich während meines ersten Besuches in der Grafschaft Devon ohne Vorwarnung aus den dichten Hedges in einen endlosen, wolkenverhangenen Horizont gespuckt wurde und ich mich plötzlich in einer kargen aber unwirklich grosszügigen Landschaft wieder fand, war ich augenblicklich der glücklichste Gänsehautträger den die Menschheit bis dahin gesehen hatte. Dieses Moor, mit seinen stachligen Heidekräutern, mannshohen Farnwäldern, bedrohlichen Sumpflöchern und majestätischen «Tors», hat mich auf einen Schlag mir selbst näher gebracht als es mein Bauchnabel jemals sein kann und meinen Kopf von allen Gedanken des Alltages aufs gründlichste befreit. Problembeladene Zeitgenossen sollten auf glücklose Therapieversuche verzichten und stattdessen in das knapp 650 km2 grosse Dartmoor reisen, um hier ihre ersehnte Heilung zu finden oder – wie viele naive Touristen – in ihm auf ewig zu versinken. Dieser Ort ist das beste Beispiel dafür, dass eine unwirtliche Gegend keinenfalls frei von Leben zu sein braucht. Das Dartmoor war bereits in der Bronzezeit «bewohnt». Im heutigen Nationalpark finden sich unzählige Siedlungsspuren, von geheimnisvollen Steinkreisen, über von der Natur zurück eroberte Steinbrüche und Kupferminen, bis hin zu den Grundmauern prähistorischer und mittelalterlicher Dörfer. Daneben weiden Schafe, Pferde, Kühe und Doyles «Hound of the Baskervilles» friedlich und befreit von Zäunen und Abschrankungen, inmitten der scheinbar unendlichen Wildnis. Dies ist der schönste Flecken Erde: Für Wanderer, Abenteurer, Märchenerzähler, Whiskytrinker oder einfach für Menschen, die eine weite, einsame Welt unter einem schnell ziehenden, windigen Wolkenhimmel über alles lieben – sprich: Für mich!

Essen und schlafen im Dartmoor (etwas Laura Ashley darf sein): «The Rock Inn», Haytor Vale.

In Britain again {2} – Bath

Bath – was für eine Stadt! Nein, wir können es einfach nicht lassen und müssen immer wieder hierher zurück kehren. Dieser Ort ist so etwas wie eine zweite Heimat geworden. Inzwischen kennen wir jede Strasse und Gasse, haben jeden vom älteren bis jüngeren John Wood lustvoll im hellen Cotswold-Stein erbauten Crescent und Circus durchmessen, alle verschlungenen Pfade der grosszügigen Parkanlagen, Gärten und Friedhöfe entdeckt und sind trotzdem bei jedem Besuch erneut verzaubert und fasziniert. Dass Bath Pflichtdestination für alle Jane Austen Groupies ist, über die einzigen heissen Quellen Englands verfügt und von den Römern bereits 60 n. Chr. als Bade- und Kurort auserkoren wurde, war und ist für uns eigentlich nebensächlich. Schliesslich lebte Austen hier nur gerade während sechs unproduktiver Jahre und für römische Bäderkultur gibt es eindrücklichere Reiseziele. Es ist das grossartige Gesamtbild mit der äusserst angenehmen Lebensqualität dieser Stadt; die vielen kleinen Restaurants, Pubs und Geschäfte, die einladende Nähe zur Natur mit verträumten Spazierwegen entlang von Kanälen und dem River Avon und der - trotz Touristen - beschaulichen Ruhe einer Kleinstadt, die unsere Liebe für Bath immer wieder aufs Neue zu erwecken vermag. Immer eine Reise wert!

Essen in Bath: «Demuths Restaurant»
Schlafen in Bath: «Queensberry Hotel»

Dienstag, 3. Mai 2011

In Britain again {1}

Ja, ich muss es eingestehen: Seit einem Sprachaufenthalt vor gut zwei Jahrzehnten, leide ich unheilbar unter Anglophilie. Bei mir weist diese heimtückische Sehnsucht nicht die üblich-bekannten Symptome, wie der manische Hang zum Royalen, den Beatles, fettigen Fish and Chips, Pilcher-Kitsch und roten Doppelstockbussen auf. Nein, es sind viel mehr die kahlen, windumpeitschten Moore; kleine, verschlafene Dörfer in der Countryside; die scheinbar endlosen Weiten grandios-verträumter Parkanlagen; dem Verfall preisgegebene Herrschaftshäuser, verlassene Fabriken und Irrenanstalten und die wundervoll angelegten historischen Häuserschluchten, Kirchen, Kanäle und Colleges mit ihrem Nachhall glanzvoller oder rabenschwarzer Zeiten und Gesellschaften. Es ist das Vergangene, Gelebte, Vergessene und Morbide dieser Insel; gepaart mit dem unverwechselbaren Duft nach wilder Minze, nassem Stein, Heidekraut, Kohlen- und Torffeuer, blühendem Flieder und Maschinenfett. Eine Mischung die in meinem Kopf unzählige Bilder und Geschichten zum Leben erweckt und mich im Rausch der Sinne über die Strassen, Wiesen und Pfade dieses Landes wanken lässt.

Genug Liebesbekundungen: Nach zwölf Jahren der unfreiwilligen und herzzerreissenden Abstinenz, war eine Reise an den Ursprung meiner Sehnsucht mehr als nötig. In Begleitung meiner geliebten Bluebell, betrat ich endlich wieder britischen Boden und wurde in keiner Weise von meinen Leiden erlöst – zum Glück!