Irrenanstalt Münsingen 1895
Park PZM Münsingen
Zwischen Giessen und Aare
Auenlandschaft an der Aare
Die Elfenau bei Bern
November oh November – ich musste elf lange Monate auf dich warten und nun bist du endlich da! Du bist das fallende Laub – windgepeitscht durch wolkenverhangene Himmel; du bist der Duft gerösteter Kastanien und frischen Mooses auf feuchten Waldböden; du bist der unabwendbare Abschied vom laut-grellen Sommertreiben und der inszenierten Lebensfreude; Du bist die Zeit des in sich Kehrens und zur Ruhe Kommens, die Zeit für düstere Geschichten, Zwielicht und Melancholie und Du bist das Gift für Menschen ohne Träume, Sehnsucht und Phantasie. Am liebsten würde ich dich umarmen und verschlingen, meine Nase tief in dir vergraben und jede deiner Stimmungen restlos auskosten. Also – raus in den Herbst.
Verlasse die warme Stube, wenn es alle anderen vorziehen zuhause zu bleiben – nur dann gehört die Welt alleine Dir! Das habe ich mir gesagt und beschlossen, meinen Spaziergang bei Wind und Wetter dort zu beginnen, wo niemand sonst freiwillig seinen Fuss hin setzt: In Münsingen bei Bern. Zugegeben, jeder Münsinger wird mir unaufgefordert widersprechen, doch der schönste Ort in dieser Gemeinde – eingeklemmt zwischen der Hauptstadt der Eidgenossen und Thun, dem Tor zum Oberland – ist die 1895 eröffnete und noch immer in Betrieb befindliche Irrenanstalt (oder politisch korrekter das «Psychiatriezentrum»). Während im Ausland die in der viktorianischen Ära gebauten, riesigen Gebäude-Komplexe vergleichbarer Institutionen abgerissen, umgenutzt oder ausgeweidet dem Zahn der Zeit und der Zerstörungswut der Vandalen überlassen werden, findet man in Münsingen viel Original-Bausubstanz mit einem beinahe unveränderten Grundriss. Bei jedem Schritt durch den die Anlage umgebenden, öffentlich zugänglichen Park, beschleichen mich Bilder aus der Geschichte des Gebäudes und der Leben und Schicksale seiner einstigen und heutigen Insassen. Ein perfekter Rahmen um seinen November-Gefühlen freien Lauf zu lassen – immer im Bewusstsein, dass ich froh sein kann vor und nicht hinter den hohen Mauern zu stehen. Weiter geht es zurück in die Natur. Entlang der sich durch undurchdringliches Dickicht und graues Moorland schlängelnden Giessen, bis zur gemächlich fliessenden Aare. Schlingpflanzen, Dornbüsche und Weidenäste greifen nach mir, feuchte Blätter klatschen ins Gesicht, hier ein Schritt in den Morast, dort ein stolpern über rutschige Wurzeln – meine Erkundungstouren in die Wildnis der Uferauen und Riedlandschaften sind ein wahrer Genuss. Es riecht nach wilder Pfefferminze, Pilzen, kalter Erde und faulem Wasser. Am Himmel ziehen dunkle Wolken, ein starker, süsslich nach Schnee duftender Wind treibt Regen und Sonne zugleich über mich hinweg. Einmal versinkt die Welt in finstere Dämmerung, dann lodern die Farben des Herbstes in warmes Licht getaucht auf. Gut und gerne vier Stunden wandere ich berauscht, von Zeit und Alltag vergessen, durch ein Herbstmärchen und erreiche schliesslich – wie passend – die «Elfenau», das Ziel meines Spazierganges. Auch wenn die Füsse schmerzen, die Schuhe eher aus Schlamm denn aus Leder bestehen, das regennasse Haar am Schädel klebt und nur noch der Wunsch nach einer heissen Tasse Tee besteht: November – nun bin ich ein Teil von Dir.
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